Immersive Audio in der Praxis: Mittendrin statt nur dabei?

In einer Zeit, in der die Nachfrage nach immersiven und beeindruckenden Erfahrungen in der audiovisuellen Industrie stetig steigt, eröffnet Immersive Audio neue Dimensionen für die Gestaltung von Klangerlebnissen. Ob in virtuellen Realitäten, Kinos, Konzertsälen, oder im heimischen Wohnzimmer, diese fortschrittliche Technologie ermöglicht es uns, Klänge so realistisch, fesselnd und räumlich wahrnehmbar darzustellen, dass sie uns in eine komplett neue Welt des Hörens eintauchen lassen. Ein Interview mit Tonmeister Holger Schwark.

Ist „Immersive Audio“ das nächste große Ding? Die meisten Audiohersteller haben entsprechende Angebote im Programm, es gibt komplexe Referenzproduktionen, aber nach wie vor ist diese Technik etwas außergewöhnliches und von vielen Fragen umschwirrt. Wir haben mit Tonmeister Holger Schwark gesprochen, der in der Vergangenheit schon so einige immersive Produktionen umgesetzt hat.

(Interview: Henning Sommer)

Wie wird etwas immersiv?

mothergrid: Vielleicht sollten wir Immersive Audio“ erstmal grob definieren. Ab wann würdest du eine Produktion als immersiv bezeichnen? (Stichwort kanalbasiert vs. objektbasiert…)

Holger Schwark: Da scheint es keinen geklärten Konsens zu geben. Ich erlebe den Begriff bei allem, was mit mehr als zwei Mixen über Stereo oder Doppel-Mono L/R hinausgeht.

Im Kino sind das neuere Formate wie Dolby Atmos, mit mehr diskret angesteuerten Lautsprechern und Objektspuren mit Richtungsdaten.

d&b audiotechnik
Bertolt Brecht objektbasiert: Dreigroschenoper mit einem d&b Soundscape-System im Berliner Ensemble. Foto: © d&b audiotechnik

Bei Live-Darbietungen auf einer Bühne spielt die Musik meist vorne – Surround- und Deckenlautsprecher sind da dramaturgisch tendenziell gar nicht mal so wichtig. Eine hochauflösende Frontbeschallung mit mehr als 2 PA-Lautsprechern ist hier ein Schlüssel zu immersiveren Erlebnissen.

Im Bereich Monitoring gibt es seit einiger Zeit hervorragende binaurale Raum-Panner mit geringster Latenz (z.B. KLANG), die dem Vernehmen nach in vielen Fällen zu subjektiv besseren, durchsichtigeren und daher potentiell leiseren InEar-Mixen führen.

In welchen Produktionen hast du denn Erfahrung in diesem Bereich gesammelt?

Seit vielen Jahren vor allem im Kulturbereich. Wenn es die Aufgabenstellung ist, mit tontechnischen Mitteln die Akustik des Spielortes zu ertüchtigen oder zu verbessern, landete ich schon lange bei kunstvoll austarierten Systemen mit mehreren Lautsprechern. Heute würde man das definitiv immersive Beschallung nennen. Was neu ist, ist der großartig vereinfachte Workflow mit den modernen Prozessoren.

Nachdem ja mittlerweile fast alle renommierten Hersteller von Lautsprecher-Systemen immersive Möglichkeiten bewerben: Ist das deiner Ansicht nach, ketzerisch ausgedrückt, ein Mittel um mehr Lautsprecher zu verkaufen, oder ist das ein echter Mehrwert für Künstler:innen (InEar) und Publikum?

L-Acoustics
Das amerikanische Electro-Duo Odesza setzte in Santa Barbara in Californien ein L-ISA System von L-Acoustics ein. Foto: © L-Acoustics

Beides, vermute ich. Als Anwender sehe, oder besser höre, ich einen echten Mehrwert hochauflösender mehrkanaliger Beschallungen in vielen Situationen. Die Hersteller freuen sich natürlich bestimmt auch, wenn mehr Material verwendet wird.

Was sind die kreativen Möglichkeiten bzw. Notwendigkeiten im Mix für Immersive-Produktionen? Unterscheidet sich das Nach Verwendungszweck?

Themenparks / Museen / Kunstausstellungen

Hier gab es schon immer allerhand Varianten zwischen Mono und vielkanaliger Wiedergabe. Da es sich um Festinstallationen handelt, die nicht täglich neu aufgebaut werden müssen, und der finale Soundtrack einfach mehrkanalig aufgezeichnet und 1:1 abgespielt wird, war ein komplizierterer Workflow innerhalb einer DAW auch in der Vergangenheit kein Hinderungsgrund für immersive Ideen. Ich bin sicher, dass auch in diesem Bereich aktuelle Hardware genutzt wird, habe aber da keine konkreten Einblicke.

Meyer Sound
Das Cartuja Center in Spanien bietet immersiven Klang mit Systemen von Meyer Sound. Foto: © Lolo Vasco

Theater

Auch hier wurde schon lange in unterschiedlichsten Intensitäten immersiv gearbeitet. Objektbezogene Lautsprecher im Bühnenbild sind dort nicht unbekannt. Eine mehrkanalige Frontbeschallung über dem Portal in Verbindung mit einem immersiven System wie Soundscape oder L-ISA macht es aber nun viel einfacher, durch zeitlich, klanglich und richtungsmäßig gut zum Direktschall des Bühnengeschehens passende Verstärkung viel unauffälliger zu arbeiten, mit besserer Textverständlichkeit, bei geringeren Pegeln. Das ist ein echter Gewinn.

Konzerte

Hier geht das Thema Immersive aus meiner Beobachtung langsamer los, aber mit eindeutig steigender Tendenz. Im aktuellen Marktumfeld ist jede Diskussion über mehr Material, Transportvolumen, Personal etc. nicht einfacher geworden als vor der Pandemie. Es gab aber bereits erfolgreiche Tourneen mit mehrkanaligen PA-Systemen wie L-ISA von L-Acoustics oder Soundscape von d&b audiotechnik.

Heimbereich

Hier versteht man unter dem Begriff Immersive Sound vermutlich vorwiegend Dolby Atmos, und das kann, vor allem für Filme, viel Spaß machen (siehe hierzu auch den Artikel zum Thema Kinobeschallung Anm. der Red.). Der Trend im MediaMarkt scheint komplett zur Soundbar zu gehen – das immersive Erlebnis hängt dabei stark vom Wiedergaberaum und dessen Größe und Akustik ab, und ist somit in der Produktion kaum vorhersehbar.

Technische Umsetzung: Was brauch ich für Immersive?

d&b audiotechnik
In der Comédie de Genève arbeitet ein ein d&b Soundscape-System. Dank eines 360-Grad-Aufbaus lässt sich das System auch für immersive Sound-Gestaltungen inklusive Rundum-Lokalisierung von Schallereignissen nutzen. Foto © d&b audiotechnik

Welche Komponenten im Audio-System sind unbedingt erforderlich um immersiv zu Arbeiten?

Ausreichend Lautsprecher mit diskreter Ansteuerung, und eine geeignete Strategie, im Mischpult oder durch externe Mixbusse Signale sinnvoll auf die Lautsprecher zu verteilen. Die nun von diversen Herstellern verfügbaren Prozessoren helfen dabei enorm, Ideen schnell und effizient umsetzten zu können. Im wesentlichen mischt man dabei nicht mehr über Subgruppen und Stereosummen, sondern schickt die einzelnen Signale per Post-Fader Direct Out in den Prozessor und richtet die Panorama-/Raumposition dort ein. Der Prozessor mischt also zusammen und generiert die Summen für die einzelnen Lautsprecher, die entweder direkt zur PA durchgereicht werden, oder gegebenenfalls ein weiteres mal durch das Mischpult laufen, je nach Systemdesign.

Wie sieht das Prepping zu einer immersiven Produktion aus?

Es gibt mehr Signalwege zu checken. Natürlich steigt mit steigender Komplexität der Systeme die Notwendigkeit vorherigen Denkens, um mit klarem Konzept ins Rennen zu gehen.

Welchen Einfluss hat die Lautsprecher bzw. Systemauswahl (Phase-Response der Speaker, Delay, Reverberation, das eigentliche Processing der jeweiligen Anbieter)?

Einer der großen Vorteile einer hochauflösenden/mehrkanaligen Beschallung ist die „Freiheit zu pannen“, da Objekte, die mehr oder weniger mono aus einer bestimmten Box kommen, überall im Raum genau von dort wahrgenommen werden. Es empfiehlt sich daher, alle Lautsprecher mit breitem horizontalen Abstrahlwinkel und überlappender Coverage zu verwenden, damit Mono-Schallereignisse aus einzelnen Lautsprechern innerhalb einer akzeptablen Toleranz im gesamten Publikum gut wahrnehmbar sind. Da sich der Musikmix insgesamt dann über mehr LS verteilt, die alle einzeln etwas weniger Energie abstrahlen müssen, kommt man oft mit etwas kürzeren Arrays gut klar als bei nur zwei Arrays.

Meyer Sound
Die immersive Audioinstallation im Sonic College in Dänemark dürfte mit die größte in Europa sein. Zum Einsatz kommen im gesamten Gebäude ein System von Meyer Sound. Foto: © Nalle Magnusson

Mit welchen Speaker-Aufstellungen wurden schon Veranstaltungen umgesetzt?

In meinem Falle zwischen vier und neun Front-Kanälen. Zusätzliche Raum-Kanäle aus anderen Richtungen als von vorne nur, falls ohnehin vorhanden.

Lassen sich Mix-Ergebnisse und Strategien zwischen den Systemen unterschiedlicher Hersteller transferieren?

Strategien durchaus. Es gibt aber zwischen den verschiedenen Prozessoren und anderen Ansätzen mit „selbstgestricktem Processing“ natürlich in den technologischen Ansätzen teils deutliche Unterschiede, die zu unterschiedlichen Mix-Ergebnissen führen werden.

Stimmt es, dass durch die bessere räumliche Verteilung weniger EQed werden muss bzw. Mixes leiser gefahren werden können?

In vielen Fällen ja. EQ-Entscheidungen beziehen sich mehr auf das jeweilige Signal und weniger auf die Interaktion und Verdeckungseffekte mit anderen Signalen im Mix. Die „richtige“ Lautstärke bleibt eine subjektive Entscheidung, aber das Gefühl, mehr Details wahrzunehmen, kann eine geringere Lautstärke als richtig erscheinen lassen.

Wie wird ein solches System eingemessen vor Ort? Spielt da beispielsweise der virtuelle Soundcheck eine große Rolle?

Es müssen zwar mehr Systeme eingemessen werden, aber gleichzeitig ist es meist sinnvoll, diese sehr ähnlich oder gar identisch zu entzerren, damit sich die Tonalität beim Pannen nicht zu stark ändert. Die Einmessung unterscheidet sich somit kaum von Stereo-PA-Systemen. Der virtuelle Soundcheck mit einem Mehrspurmitschnitt ist immer nützlich, wenn man dieselbe Show wiederholt einrichtet, das hat eher nichts mit immersiv oder nicht zu tun.

Wie mobil sind denn solche Setups bzw. wie zeitintensiv ist die Umsetzung im Venue?

Mehr Lautsprecher heißt mehr Auf- und Abbau, Rigging, und mehr Zeit und Personal – aber ist nicht unmöglich, und wurde ja bereits erfolgreich im Tour-Kontext praktiziert.

Wie ist das mit Monitoring für Künstler:innen? Mir ist da z. B. das KLANG-System bekannt…

KLANG
Lewe Redlin nutzte auf Tour mit Sarah Brightman ein KLANG-System für das immersiv gemischte In-Ear. Foto © Lewe Redlin

Dies ist ein ganz anderes Thema als die immersive Beschallung. Hier geht es aber auch um die Möglichkeit, Signale als Objekte in ihrer Wahrnehmungsrichtung zu positionieren, wobei hier mit schnellen DSPs binaural gerendert wird. Soll dem Vernehmen nach super sein! Da hier nur etwas spezielle Peripherie am Monitorplatz benötigt wird und dieselben InEar-Systeme zum Einsatz kommen, ist der technische Mehraufwand hier absolut überschaubar, im Vergleich zum gehörten Mehrwert geradezu spottbillig und daher sicherlich ein Trend, der bleibt!

Welche Mischpulte bieten sich an und warum?

Alle größeren modernen Live-Mischpulte mit mehrkanaligen Schnittstellen wie Madi oder Dante. Wenn Veränderungen der Objekt- und Raum-bezogenen Situationen während einer Veranstaltung per Snapshots verwaltet werden sollen, bieten sich Pulte mit entsprechender Software-Integration an, da fällt mir spontan DiGiCo, Avid, Yamaha ein.

Da lassen sich die Objektpositionen dann auch direkt im Kanalzug am Pult einstellen, und nicht nur per Maus am Rechner. Ansonsten bleibt die Wahl eines Pultes heutzutage wesentlich eine persönliche Workflow-Entscheidung im Rahmen budgetärer Möglichkeiten, da ändert das Thema Immersive nichts dran.

L-ISA
Mit einem L-Acoustids L-ISA Frontal System und acht an der Decke montierten X8 konnte Russ Miller (FOH) mit den L-ISA Pan-, Width-, Depth- und Elevation-Parametern „spielen“, um Johnny Marrs Vision einer „trippigen und psychedelischen“ Darbietung von New Dominions zu erreichen Foto: © Maria Zhytnikova

Kreativer durch Immersive Audio?

Welcher Veranstaltungstyp bzw. welche Musik bietet sich an für Immersiven Sound?

Meines Erachtens auf jeden Fall alle Veranstaltungen, bei denen ein deutlicher Anteil akustischen Direktschalls beim Publikum ankommt, den es mit der PA zu verstärken gilt.

Für Theater gilt das unbedingt, falls es möglich ist, sinnvolle Lautsprecherpositionen über der Bühne zu finden. Für verstärkte Konzerte mit Orchestern gilt das auch unbedingt, da sich die Breite des originalen Klangkörpers viel überzeugender akustisch abbilden lässt. Für laute Pop-Konzerte sind die zu diskutierenden Themen vielfältiger und komplexer.

Muss bzw. sollte der immersive Gedanken bereits bei der Komposition berücksichtigt werden?

Generell eher nicht. Es gab und gibt sicherlich raumbezogene Kompositionsideen. Wird für einen entsprechend ausgestatteten Ort gezielt komponiert, sind natürlich fabelhafte Dinge möglich.

Ist immersive-Sound DIE Möglichkeit um sicherzustellen das die Musik so gehört wird wie der/die Künstler:in es sich gedacht hat?

Was sich Künstler:innen denken, und ob ihnen diese Themen wichtig und relevant sind, dürfte individuell sein, insofern würde ich so pauschal sagen: manchmal JA.

Wirtschaftlichkeit: 30% oder Faktor 2?

CODA Audio
Mit dem Space Hub bietet auch CODA Audio einen Immersive-Prozessor an. Foto: © CODA Audio

Wie viel teurer sind die Veranstaltungen geworden im Vergleich zu „Stereo“?

Teurer ohne Frage. Ob man da von 30% mehr oder Faktor 2 reden muss, hängt von vielen Details ab – ob man primär das Material betrachtet, oder den gesamten Mehraufwand (Transporte, Crew etc.). Wenn es im Kontext passt, sind immersive Konzepte in vielen Fällen durchaus darstellbar.

Ist das Publikum auf Immersive Audio angesprungen in einem Ausmaß das Wiederholungen rechtfertigt?

Definitiv.

Viele Hersteller werben ja mit geringerem Transport-Volumen, geringerer Stromaufnahme etc., der aktuellen Systeme. Wenn ich aber nun mehr Systeme für immersive Produktionen einsetze, fällt dann dieser Vorteil nicht sofort wieder weg?

Immersiv braucht mehr Material als Stereo. Immersiv mit modernen kleineren Systemen weniger als Immersiv mit älteren größeren Systemen. Jedes System-Design hat u. a. ein bestimmtes Transport-Volumen mit entsprechenden Kosten.

Holger – ich bedanke mich sehr herzlich für deine fundierten Ausführungen.

Über den Autor

Holger Schwark
Holger Schwark

Dipl.-Tonmeister Holger Schwark lebt in Berlin und arbeitet weltweit als Sound Designer, FOH Engineer und Musikproduzent für unterschiedliche Genres. 

Einen besonderen Schwerpunkt seines Schaffens stellt die Beschallung von Musik in ungewöhnlichen Umgebungen dar, oft im Grenzbereich zwischen Optimierung der vorhandenen Akustik und immersiver elektro-akustischer Verstärkung. So wird er seit vielen Jahren regelmäßig für Orchesterkonzerte in der Berliner Waldbühne verpflichtet. Eine lange Zusammenarbeit seit 2003 verbindet ihn mit der mit der britischen Band Pet Shop Boys. Tourneen führten ihn in mehr als 80 Länder. Beim Festival RuhrTriennale war er für das Tondesign diverser Opernproduktionen verantwortlich. Beim Lincoln Center Festival in New York für Die Soldaten (2008), beim Luminato Festival in Toronto für Apocalypsis (2015), am Berliner Ensemble für Die Dreigroschenoper (2021).